Der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels hat sich in einem offenen Brief mit wichtigen Forderungen an die Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt: Die Anwaltschaft müsse als systemrelevant eingestuft werden, da sie „in dieser Krise als Organ der Rechtspflege eine elementare Bedeutung für das Funktionieren des Rechtsstaates“ habe. Zudem würden Anwälte im Vergleich zu anderen Unternehmen bei der Unterstützung durch Soforthilfen benachteiligt. Deshalb müssten dringend Anpassungen vorgenommen werden. Wie sich die Corona-Pandemie auch bei den Anwälten wirtschaftlich auswirkt, erklärt Wessels im folgenden Interview.
Warum ist es Ihrer Meinung so wichtig, dass auch Anwälte als systemrelevant eingestuft werden?
Dr. Ulrich Wessels: Das hat ganz grundsätzliche Bedeutung! Ohne Anwälte gibt es keinen Zugang zum Recht. Dies ist aber Voraussetzung für einen funktionierenden Rechtsstaat. Anwälte müssen gerade in dieser Krise für ihre Mandanten erreichbar und zur Stelle, also arbeitsfähig sein. Deshalb benötigen insbesondere diejenigen, die kleine Kinder haben, eine Notbetreuung für ihren Nachwuchs. Es muss sichergestellt werden, dass Bürgerinnen und Bürger dringend benötigten Rechtsrat einholen können – auch und gerade in einer Krise.
Sie sprechen in Ihrem Brief auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Anwaltschaft an. In welchen Bereichen ist der anwaltliche Beratungsbedarf derzeit besonders groß und in welchen eher gering?
Dr. Ulrich Wessels: Anwaltlicher Rat ist derzeit im Arbeits-, Sozial-, Vertrags-und auch im Insolvenzrecht besonders gefragt. Im Familienrecht könnte sich ebenfalls ein höherer Beratungsbedarf ergeben. Hingegen verzeichnen die großen Wirtschafts- und Transaktionskanzleien aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Situation eher kein Umsatzplus. Restrukturierungen werden – wie etwa in der Finanzkrise – später wieder an Bedeutung gewinnen. Ruhiger geht es wohl auch bei den Anwälten zu, die sich auf das Verkehrs- oder Prüfungsrecht spezialisiert haben.
Inwieweit wirkt sich der Notbetrieb der Gerichte negativ bei den Anwälten aus? Dr. Ulrich Wessels: Es herrscht bei den Gerichten ein deutlich reduzierter Betrieb. Dieser ist von Gericht zu Gericht sehr unterschiedlich geregelt. Auf der Homepage der BRAK haben wir die wichtigen Informationen zusammengestellt. Vor allem Straf- und Haftverfahren, aber auch eilbedürftige Kindschaftssachen müssen schnell gerichtlich entschieden werden. Gleiches gilt für einstweiligen Rechtsschutz im Verwaltungsrecht. Andere Verfahren werden zeitlich verschoben. Für die Anwälte bedeutet dies, dass sie die Mandate nicht abrechnen können, weil sie eben noch nicht abgeschlossen sind.
Nun landen aber nicht alle Streitigkeiten vor Gericht…
Dr. Ulrich Wessels: …das stimmt, es gibt viele Fälle, die außergerichtlich beigelegt und dementsprechend abgerechnet werden können. Es ist Aufgabe der Anwaltschaft, Angelegenheiten auch außergerichtlich beizulegen und durch einen Vergleich abzuschließen, wenn dies im Interesse der Mandantschaft sinnvoll und sachgerecht erscheint. Aber auch dafür müssen die Anwälte überhaupt arbeitsfähig sein. Gleichwohl werden insbesondere die Anwälte, die viel vor Gericht auftreten, durch die aktuellen Verzögerungen mit Liquiditätsengpässen rechnen müssen. Wir können auch nicht abschätzen, wie lange sich die Verfahren nun hinauszögern.
Sie kritisieren, dass Anwälte im Vergleich zu Unternehmen bei den wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung benachteiligt werden. Warum?
Dr. Ulrich Wessels: Im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmern stellt sich bei den Anwälten der Liquiditätsengpass nicht abrupt ein, sondern entwickelt sich im Laufe der Zeit. Nach und nach werden weniger Zahlungen aus abgerechneten Mandaten eingehen. Neue Mandate können schwerer generiert werden, da viele Bürgerinnen und Bürger Angst haben, das Haus zu verlassen, um einen Anwalt aufzusuchen. Der Prozess ist also im Vergleich zum Handel, der sofort schließen musste, zeitlich verzögert. Wann sich die Einbußen offenbaren, ist noch nicht absehbar. Dann aber greifen die staatlichen Maßnahmenpakete nicht mehr. Wir dürfen nicht vergessen: Auch Anwälte haben Mitarbeiter, müssen Miete zahlen und vieles mehr. Wir müssen auch nach der Krise für unsere Mandanten da sein und ihren Zugang zum Recht sicherstellen.