„Unser Berufsstand braucht deshalb eine laute Stimme und muss sichtbar an der Gestaltung der Rechtspolitik partizipieren“

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Seit Mitte Februar 2025 ist der Berliner Rechtsanwalt Stefan von Raumer der neue Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Er hat das Amt von Rechtsanwältin Dr. h.c. Edith Kindermann übernommen, die seit 2019 an der Spitze des DAV gestanden hat. Im Folgenden berichtet er, welche besonderen Aufgaben und Herausforderungen der DAV zu bewältigen hat.

Als Verfassungsrechtler liegen Ihnen sicherlich die Sicherung einer unabhängigen Justiz und der Schutz der Bürgerrechte besonders am Herzen. Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf in Deutschland?

Stefan von Raumer: Mit der Verankerung wichtiger Schutzmechanismen zur Gewährleistung der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz wurde noch vor dem Ende der Legislaturperiode ein bedeutender Schritt für eine zukunftssichere Gewährleistung der effektiven Durchsetzung geltenden Verfassungsrechts in Deutschland gemacht. Ähnliche Maßnahmen braucht es auch in den Ländern – das Beispiel Thüringen zeigt uns, wie Sperrminoritäten die Funktionsfähigkeit von Verfassungsgerichten beeinträchtigen können. Der DAV setzt sich deshalb für eine Stärkung der Resilienz auch der Landesverfassungsgerichte ein. Es gibt aber auch noch weiteren Handlungsbedarf auf Bundesebene. Immer noch sind wichtige Regelungen, die für die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts entscheidend sind, nur einfachgesetzlich geregelt und daher auch einfach zu ändern.

Auch der Schutz der Bürgerrechte ist eines unserer Kernanliegen. Deshalb beobachten wir neue Überwachungspläne sehr genau, vor allem mit Blick auf die Eingriffe, die damit verbunden sind – anlasslose Massenüberwachung, wie sie durch die deutschen Pläne für eine IP-Speicherung oder europäische Vorstöße zur Chatkontrolle eingeführt würde, lehnen wir entschieden ab. Selbst wenn aber einzelne Maßnahmen auch einmal nachvollziehbar sein mögen, ist es im besonders eingriffsintensiven Sicherheitsrecht zum Schutz der Bürgerrechte nötig, die Gesamtheit der möglichen Eingriffe zu betrachten. Wir fordern daher eine Weiterführung der Überwachungsgesamtrechnung. Auch sind wir für eine evidenzbasierte Analyse und dann Beseitigung von Vollzugsdefiziten des bereits geltenden Rechts statt uferloser Ausweitung neuer Gesetzgebungsprojekte. Das gilt insbesondere für neue Strafnormen, die immer die Ultimative Ratio bleiben müssen und verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sind, wenn auch mildere Mittel greifen.

Der Zugang zum Recht für jeden Bürger ist verfassungs- und europarechtlich verbürgt. In Deutschland und Europa gewährleisten diesen Zugang vor allem Rechtsanwältinnen und -anwälte. Diese Aufgabe müssen sie auskömmlich erfüllen können. Daher kämpft der DAV für eine regelmäßige Anpassung des RVG – mindestens in jeder Legislaturperiode.

Wir müssen leider beobachten, dass die unabhängige Anwaltschaft in den USA und teilweise auch in Europa bedroht wird. Wie können wir einer solchen Gefahr in Deutschland vorbeugen?

Angriffe auf die unabhängige Anwaltschaft und unabhängige Anwaltsorganisationen, wie wir sie schon länger weltweit und jüngst insbesondere in den USA – etwa bei den jüngsten Angriffen der Federal Trade Commission (FTC) auf die American Bar Association (ABA) beobachten müssen – sind Angriffe auf den Rechtsstaat. Der Zugang zum Recht für Bürgerinnen und Bürger ist ohne freie Anwaltschaft und effektive und unabhängige Anwaltsorganisationen nicht denkbar. Unser Berufsstand braucht deshalb eine laute Stimme und muss sichtbar an der Gestaltung der Rechtspolitik partizipieren. Der DAV tut dies bislang sehr erfolgreich: Auch in der neuen Legislatur werden wir unsere Expertise in Stellungnahmen und Sachverständigenanhörungen in die Gesetzgebung einbringen. Die absehbar in naher Zukunft in Kraft tretende Europarats-Konvention zum Schutz der Anwaltschaft, an deren ersten Entwurf ich für den DAV selbst im Rat der europäischen Anwaltsorganisationen CCBE vor über zehn Jahren mitgewirkt hatte, wird uns bei einem Schutz der Anwaltschaft vor Angriffen gegen deren Unabhängigkeit eine wichtige Stütze sein.

Dass Anwältinnen und Anwälte dafür angefeindet werden, dass sie die „falschen“ Mandanten vertreten – wie zum Beispiel nach dem Messeranschlag in Solingen, als eine Kollegin unter Polizeischutz gestellt werden musste – ist nicht hinnehmbar. Hier müssen wir auch untereinander Solidarität zeigen.

Der demographische Wandel stellt Justiz und Anwaltschaft vor große Herausforderungen. Was muss geschehen, damit es nicht in naher Zukunft zu größeren personellen Engpässen kommt? Inwieweit können technische Prozesse und auch KI eine Lösung sein?

Der Konkurrenzkampf um den juristischen Nachwuchs ist schon jetzt groß. In der Justiz steht eine große Pensionierungswelle bis 2030 an, in der Anwaltschaft wird für alle Rechtsgebiete Nachwuchs gesucht. Gleichzeitig müssen die Kanzleien wirtschaftlich tragfähige Angebote für ihre Mandantschaft bieten.

Daher nutzen schon heute einige Kolleginnen und Kollegen die volle Bandbreite technischer Hilfsmittel in ihrer Arbeit. Die Anwaltschaft und die Justiz müssen, ebenso wie die juristische Ausbildung, mit der Zeit gehen. Modernisierung ist dabei nicht unser Gegner: Digitalisierung, Legal Tech und neu aufkommende KI-Tools können und werden in Zukunft eine große Unterstützung in der alltäglichen Arbeit sein. Das allein wird aber nicht genügen, um den ausbleibenden Nachwuchs aufzufangen. Der DAV macht sich deshalb auch für eine modernere juristische Ausbildung stark.

In den vergangenen Wochen wurde aus dem Kreis der Mitglieder Kritik am DAV laut. Welches sind Ihrer Meinung die wichtigsten Schritte, damit der DAV auch weiterhin ein attraktiver Interessenvertreter des Berufsstandes bleibt?

In den über 250 Mitgliedsvereinen des DAV sind etwa 60.000 Kolleginnen und Kollegen organisiert, davon nahezu 40.000 in den DAV-Arbeitsgemeinschaften. Auf diesen Ebenen wird hervorragende Arbeit geleistet. Selbstredend gibt es da verschiedene Meinungen und auch Kritik – das gehört dazu und die Diskussion unterschiedlicher Standpunkte ist essentiell für die Weiterentwicklung unseres Verbandes. In der Vergangenheit wurden die Ergebnisse einer Strukturkommission für eine Satzungsänderung intensiv diskutiert und in der DAV-Mitgliederversammlung zur Abstimmung gestellt. Natürlich sind nicht immer alle mit den demokratisch herbeigeführten Ergebnissen einverstanden. Dass die Unzufriedenheit mit einem Ergebnis dann noch mal aufgegriffen wird, ist menschlich, für mich und meine Präsidiums- und Vorstandskollegen aber auch ein Signal, genau zuzuhören und zu überlegen, wie man Dinge noch besser machen kann.

Die große DAV-Familie aus Mitgliedsvereinen, Landesverbänden, Ausschüssen, Arbeitsgemeinschaften, FORUM Junge Anwaltschaft und Forum für Wirtschaftskanzleien, Vorstand, Präsidium und Geschäftsführung lebt von der inhaltlichen Auseinandersetzung. Wir laden herzlich dazu ein, sich in dieser Familie aktiv zu engagieren und mit seinen Standpunkten einzubringen, um die eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in unsere Arbeit einfließen zu lassen und uns damit zu einer noch durchsetzungsstärkeren Anwaltsorganisation zu machen.

Foto: ©2023 Katja Kuhl