BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung verunsichert Anwaltschaft

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Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte arbeiten viel. Das ist gemeinhin bekannt. Ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sorgt jetzt dafür, dass man sich in vielen Kanzleien wieder mit den Arbeitszeiten beschäftigt. So hat das BAG festgestellt, dass der Arbeitgeber nach dem Arbeitsschutzgesetz (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) gesetzlich dazu verpflichtet ist, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen (Az.: 1 ABR 22/21 vom 13.09.2022). Die BAG-Richter berufen sich dabei auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Mai 2019. Auf der Grundlage der europäischen Arbeitsschutzrahmenrichtlinie hatte er gefordert, dass Arbeitgeber in den Mitgliedsstaaten ein objektives und verlässliches Arbeitszeiterfassungssystem etablieren müssen. Gehandelt hat der deutsche Gesetzgeber daraufhin jedoch nicht.

Das könnte sich aber durch das BAG-Urteil jetzt ändern. „Das BAG-Urteil stellt jetzt klar, dass die gesamte Arbeitszeit und nicht nur die Überstunden erfasst werden muss – und zwar für alle Arbeitnehmer“, erklärt Marc Gimmy, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der internationalen Sozietät Taylor Wessing. Er ist zudem Vorsitzender des Ausschusses Arbeitsrecht der Bundesrechtsanwaltskammer. Danach müssen also auch Kanzleien Arbeitszeiterfassungssysteme etablieren, um die Arbeitszeiten ihrer angestellten Anwältinnen und Anwälte einschließlich angestellter Partner zu dokumentieren.

Arbeitgeber, also auch Kanzleien, die Arbeitszeitgrenzen permanent überschreiten und somit gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, riskieren zudem Einiges: Diese Verstöße können hohe Bußgeldzahlungen nach sich ziehen. „In dem aktuellen Urteil bezieht sich das BAG allerdings auf die entsprechende Norm im Arbeitszeitschutzgesetz, die nicht mit einem Bußgeld bewährt ist. Allerdings sahen sich Beratungsgesellschaften in der Vergangenheit bereits Bußgeldverfahren wegen Verstößen gegen das aktuelle Arbeitszeitgesetz ausgesetzt.“, sagt Gimmy.

Der noch relativ junge Bundesverband der Wirtschaftskanzleien hat sich bereits in Stellung gebracht. Er fordert eine Reform des Arbeitszeitgesetzes. Eine „Befreiung angestellter Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen und vergleichbarer Berufsgruppen von den starren Grenzen des Arbeitszeitgesetzes durch die Gleichstellung mit leitenden Angestellten entsprechend Artikel 117 Arbeitszeitrichtlinie“ hält der Verband für sachlich angemessen. Auch ein höheres Einkommen – konkret: die Überschreitung der Bemessungsgrenzen für die Renten- und Arbeitslosenversicherung von derzeit rund 85.000 Euro jährlich in den alten Bundesländern – könne dafür ein Indiz sein. Ein weiteres Merkmal sei, dass die angestellten Anwältinnen und Anwälte ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich einteilen könnten.

Nach Auffassung von Gimmy spricht vieles für eine solche Befreiung der Anwaltschaft von den Arbeitszeitvorschriften: „Diese Berufsgruppe kann als Organ der Rechtspflege sich nicht darauf beschränken nur innerhalb der gängigen Bürozeiten und an Werktagen für ihre Mandanten tätig zu werden.“ Das gelte im Übrigen nicht nur für die angestellten Anwältinnen und Anwälte in großen Wirtschaftskanzleien, sondern genauso für kleinere Einheiten, etwa im Straf- oder Familienrecht. Eine solche Befreiung kann aber nur der Gesetzgeber herbeiführen. Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien hat ihn deshalb aufgefordert, eine Bereichsausnahme zu ermöglichen – und zwar nicht allein für die Anwaltschaft, sondern für alle freien Berufe, „deren angestellte Berufsträger ihre Arbeitszeit im Wesentlichen frei bestimmen können.“